Es ist nicht zu leugnen, dass wir in letzter Zeit immer wieder über dieses Spiegelbild gestolpert sind. Das Flüchtlingsproblem, das Klimaproblem, die Infrastruktur der Eisenbahnen, der neue Flughafen in Berlin-Schönefeld u.v.m. Es gibt immer mehr gesellschaftliche Aufgaben, auf die der Staat keine oder nur noch unzureichende Antworten hat.
Es macht keinen Sinn, die Unzulänglichkeit des Staates isoliert zu betrachten oder nach Schuldigen zu suchen. Wir müssen auf den Zusammenhang schauen, auf das Muster. Als Regierungsaufgabe mag die Corona-Krise durch ihre einzigartigen Herausforderungen extrem schwierig sein. Dennoch zeigt sie uns die Symptome einer Krankheit, die uns seit Jahren quält. Wir müssen über das Paradoxon der Anmaßung/Ohnmacht sprechen.
Das Anmaßung/Ohnmacht-Paradoxon beschreibt den Widerspruch, der entsteht, wenn der politische Primat im Hinblick auf die Regulation unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens die eigene Potenz nur noch vortäuscht, während er strukturell mit der Realität seiner Impotenz gegenüber Corona und ähnlichen Herausforderungen konfrontiert wird, und wir diese Ohnmacht zwar beiläufig signalisieren, aber im Grunde leugnen.
Strukturelle Ohnmacht wird durch Notverordnungen, Neuwahlen, einer weiteren Subvention oder einem zusätzlichen Gesetz rationalisiert. Oder wir ernennen einen neuen Minister. Dann wird alles gut.
All diese Phänomene zeigen uns, wie wenig Kontrolle wir haben, dass wir den Gesamtüberblick verloren haben, im Überlebensmodus sind und nur „auf Sicht“, sprich Inzidenzen fahren.
Die stereotype Antwort besteht darin, eine Untersuchungskommission aus erfahrenen Politikern, Entscheidungsträgern und hochdekorierten Wissenschaftlern erst eine Diagnose stellen zu lassen und dann einen Aktionsplan.
Genau das ist das Problem.
Wir müssen langsam anerkennen, dass die Realität dem politischen Primat entglitten ist.
Und wir müssen erkennen, dass wir alle in diesem paradoxen Paradigma gefangen sind – Politiker und ihre Entscheidungsträger, Beamte und Bürger. Es gibt keine Schuldigen, Zeigefinger machen keinen Sinn. Es gibt aber Verantwortlichkeiten.
Was sind die Symptome des Anmaßung/Ohnmacht-Paradoxons?
Die Durchführung von Maßnahmen ist politisiert. Der Staat kann die Umsetzung seiner Maßnahmen nicht mehr so steuern, wie er will, weil die Sprunghaftigkeit der politischen Dynamik nicht mit der Komplexität großer Verwaltungsapparate vereinbar ist. Verstärken wir also unsere Umsetzungsbemühungen? Nein, stattdessen besetzen wir die Führungsebene des öffentlichen Dienstes politischer, als ob wir alle die Realität durch eine politisch-administrative Brille betrachteten, die sich automatisch anpasst. Das ist, gelinde gesagt, sehr einseitig und wenig praxisnah.
Der Dialog ist polarisiert. Wenn wir ein dysfunktionales System analysieren, gelangen wir über Reflexion und Neuorientierung schließlich zur Transformation. In einem polaren System (Koalition/Opposition), das sich durch politisches Primat zur höchsten Ordnung erklärt hat, kann ein Versagen im Prinzip nur durch das eine oder andere verursacht werden. Dieses System kann keine Realität wahrnehmen, die über diesen Primat hinaus reicht. Dann gibt nur noch einen Weg: Sichtweisen werden verschärft. Die Mitte verschwindet und die Zentrifugalkräfte nehmen zu, bis wir aus der Kurve fliegen.
Political Correctness als Norm. Da der politische Anspruch weiterhin besteht, die administrative Wirksamkeit jedoch abnimmt, verlagert sich das Ziel der Machbarkeit von konkreten administrativen Maßnahmen zu einer angemessenen politischen Sprache und einem angemessenen politischen Verhalten. Wir moralisieren. Nichts gegen Moral, es sei denn, sie wird als Verteidigungsmechanismus verwendet.
Die Sprache erodiert: Minister verwenden zunehmend absolute Begriffe wie „unmöglich“, „unannehmbar“, „unzulässig“ und „inakzeptabel“. Das geht vielleicht einmal. Aber ein Minister ist kein neutraler Beobachter, sondern eine Autorität, der Boss. Die permanente Nutzung dieser Wörter macht Minister unglaubwürdig.
Fokus auf Details: Staatsverwaltung unterscheidet sich vom Management. Staatsverwaltung erfordert Reflexion, Distanz, Überblick und Vision. Tageswerte sind tödlich. Trotzdem „managen“ Politiker, Minister und Spitzenbeamte zunehmend Medienereignisse (beachten Sie auch hier die Semantik) mit einer Lebensdauer von wenigen Stunden bis zu einigen Tagen. Die Aufmerksamkeit für den akuten Vorfall ist größer als die für die Statistik, den langfristigen Trend, weil die Medien unsere primären Instinkte stärker triggern als unsere Sinne für Verhältnismäßigkeit, Distanz und Nuance.
Die Angst vor Risiken wächst: Das Anmaßung/Ohnmacht-Paradoxon signalisiert eine Sackgasse. Wirtschaftlich, sozial, politisch, moralisch. Anstatt zu kreieren, zu wachsen (nachhaltig), uns zu entwickeln und anzupassen, werden wir defensiv und rückwärtsgerichtet. Wir haben Angst zu verlieren, was wir haben. Die Idee der Machbarkeit verschiebt sich von der Schöpfung zur Vermeidung von Risiken, von der Gefahr.