Desinformation und Moralismus

Desinformation und Fake News bedrohen unsere Institutionen und destabilisieren unsere Demokratien. Also lasst uns Desinformation und Fake News vermeiden! Als wäre das so einfach. Dieser Aufsatz befasst sich mit den systemischen und psychologischen Unterströmungen des Phänomens Desinformation. Er wird zu dem Schluss kommen, dass es sinnlos ist, Desinformation als unsittliches Verhalten zu brandmarken. Denn Desinformation ist ein Symptom des Zeitgeistes. Symptome moralisch anzuprangern ist so sinnlos wie Schnupfen oder Erkältung als Sünde zu bezeichnen.

Sinnvoller dürfte es sein, der Frage nachzugehen, worauf diese Symptome hinweisen.  Könnte Desinformation Zeichen sein für einen anstehenden kollektiven Bewusstseinssprung? Aber von wo und wohin?

Wer sucht nicht nach Wahrheit?

“Die Wahrheit wird dich frei machen” diese Worte von Christus waren Thema einer Rede von Papst Franziskus zum Weltkommunikationstag 2018. Fake News, so seine Botschaft, sei das Werk des Teufels. Franziskus setzte Desinformation und Fake News gleich mit der Schlange, die Eva dazu verführte, von der verbotenen Frucht zu essen. Im Jahr 2022 hat sich der Papst ähnlich über Corona geäußert.

Trotz angeschlagenen Images seiner Institution ist das Oberhaupt der katholischen Kirche noch immer eine weithin anerkannte moralische Instanz, auch über kirchliche Kreise hinaus. Wenn er sagt Fake News seien das Werk des Teufels und deren Verbreitung eine schwere Sünde, ist das eine klare Botschaft. In bester moralistischer Tradition ist der Weckruf des Papstes eine Aufforderung zu anständigem Verhalten. Staatsoberhäupter, Politiker und Wissenschaftler schlagen in die gleiche Kerbe. Es gelte widerstandsfähig zu sein, einzugreifen, Gesetze zu erlassen und nötigenfalls zu zensieren.

Diese Rückkehr zur Moral ist bemerkenswert,  denn nach Nietzsches “Gott ist tot” im späten 19e Jahrhundert war die vorherrschende Ansicht, dass  “der Mensch denkt, UND der Mensch lenkt”. Seither zählt „social engineering“, der Glaube an die Machbarkeit von Gesellschaft und Gesellschaftsordnungen allein durch den Menschen zu den wesentlichen Merkmalen der Moderne. Die moderne Welt baute auf Technokratie, um Probleme zu lösen. Wozu brauchte es dazu noch religiös anmutenden Moralismus?

Eine phänomenologische Zeitgeistanalyse

Desinformation ist kein schuldhaftes Verhalten, sondern ein eigenständiges Symptom des Zeitgeistes. Ein Phänomen, das nicht verschwindet, indem man es wegmoralisiert.  Wiedererwachtes Moralisieren offenbart vor allem eines: Die Ohnmacht moderner Sozialtechnik.

Bei der folgenden Betrachtung des Zeitgeistes und seiner Phänomene stoßen wir auf das Problem, dass wir selbst der Zeitgeist sind. Schließlich bemerkt ein Fisch auch nicht, dass das Wasser nass ist. Was tun? Vielleicht sollten wir einmal versuchen, einfach zu beobachten und – ohne wissenschaftliche Brille – “wahr”- zu nehmen, was ist und jeder sehen kann.

Zeitgeistanalyse in fünf Phänomenen

1. Aushöhlung der Autorität und die Diktatur des Individuums

Seit den 1960er Jahren sind viele Autoritäten von ihren Sockeln gestürzt oder gestoßen worden. Die Legitimität der verbleibenden Autoritäten, seien es Lehrer, Bürgermeister oder Ärzte, wird täglich in Frage gestellt. Es gibt immer weniger anerkannte Autoritäten. Mehr und mehr externe Quellen für Sinn und Zweck gehen verloren. Zu all dem setzen wir uns selbst an die Stelle der Autorität. Das Dilemma: Die Massen selbsternannter Autoritäten sind sich untereinander nicht allzu einig.

Die Fragmentierung von Wahrheiten und Meinungen als Symptom der Moderne nannten wir individuelle Freiheit. Und das war tatsächlich eine Befreiung von den Ketten der Gruppe. Doch die Freude über die Individualisierung droht sich ins Gegenteil zu verkehren. Denn wenn jeder Recht hat, gibt es dann überhaupt so etwas wie Wahrheit? Wenn jeder Recht hat, gibt es dann überhaupt noch Grenzen oder Lügen? Wenn jeder Witz für jemanden verletzend ist, worüber kann man dann noch lachen? Die Hoffnung war, dass sich die Diktatur der Gruppe in die Freiheit des Einzelnen verwandeln würde, aber die Realität sieht weniger schön aus. Es scheint, als würde die Diktatur der Gruppe durch die Diktatur des Individuums ersetzt werden.

2. Das schwankende Selbst

Die Babyboomer werden sie wiedererkennen, die Euphorie über die neuen Freiheiten in den 1960er Jahren. Die Individualisierung versprach, dass jeder er selbst sein konnte, obwohl nicht klar war, was genau das war. Auf jeden Fall hatten wir große Erwartungen an unsere Freiheiten, an all die individuellen Ansichten, die an die Stelle autoritärer Rahmenwerke treten würden. Und wie sieht es jetzt aus? Wir werden täglich mit Werbung bombardiert, durch das Fernsehen, soziale Medien und Sport-Events. Unsere Peers sagen uns, wie wir zu sein hätten:  einzigartig und besonders. Da alles gemessen und verglichen wird, besteht ein sozialer Zwang, immer besser, schöner und erfolgreicher als andere zu sein. Das führt zu Stress und Spaltung.

Es gibt viele Verlierer der Individualisierung. Im Grunde können viele ihre eigene Einzigartigkeit nicht ertragen und verstecken sich in Identitätsgruppen. Dort sehen sie überhaupt nicht einzigartig aus, sondern uniform, ob es sich um Antifa-Aktivisten handelt oder um Fußball-Hooligans. Sehr schön wirdt dieser Trend zur Uniformierung deutlich an den immer eintönigeren Farben neuer  Personenkraftwagen (siehe Bild).

Hohe Erwartungen erfüllen sich nicht immer: Die eigene Wahrheit des Einzelnen macht sein Leben nicht automatisch sinnvoll. Nicht Autonomie und Weisheit werden geschaffen, sondern Ambivalenz: Wer bin ich? Bin ich gut genug? Wir haben immer weniger, an dem sich festhalten lässt, und das verunsichert.  Wir starren wie hypnotisiert auf den Bildschirm unseres iPhones und hungern nach einem Like, während die Therapeuten mehr denn je beschäftigt sind.

3. Demokratisierung der Nachrichten

Noch vor wenigen Jahrzehnten waren Nachrichten ein solider Wirtschaftszweig und man brauchte Fachleute, Technologie und Logistik, um sie zu produzieren. Vor allem mit dem Smartphone haben sich Beschaffung und Veröffentlichung von Nachrichten demokratisiert. Jeder Bürger hat potenziell eine doppelte Rolle in Bezug auf Nachrichten: Er oder sie ist Produzent und Konsument zugleich. Twitter, Facebook und iPhone ermöglichen es jedem, alles aufzunehmen und zu veröffentlichen. Der Pop-Art-Künstler Andy Warhol kündigte diesen “Moment of Fame” bereits 1968 an. Und im heutigen narzisstischen Zeitalter tun wir nichts lieber, als unseren eigenen “Moment of Fame” mit einem Selfie-Post zu feiern.

Diese Demokratisierung hat ein race-to-the-bottom zur Folge. In der Vergangenheit arbeitete die Medienwelt überwiegend auf der Grundlage journalistischer Standards, die nach Objektivität strebten. Um den Nachrichtenkonsumenten zu gefallen, konzentrieren sich die Medien heute zunehmend auf persönliche Emotionen. Algorithmen sorgen dann dafür, dass persönliche Gefühlsblasen ständig bedient werden. Es ist auch kaum mehr möglich zu unterscheiden, welcher Sender welche Interessen hat. Oder was Aktion und was Reaktion ist. Marketing, Propaganda und Nachrichten lassen sich schwer voneinander trennen.

4. Aufmerksamkeit erzeugt Realität

Gemäß der Quantentheorie beeinflusst bewusste Aufmerksamkeit die Realität. Egal wie trivial und unbedeutend ein Detail oder ein Vorfall ist, ein richtig getroffener instinktiver Ton kann einen Twitter-Tornado entfesseln. Wenn er heftig genug ist, kann selbst ein Minister diese Gewalt nicht mehr ignorieren. Es gab Zeiten, in denen der Haarschnitt oder die “Raute” der Bundeskanzlerin mehr diskutiert wurden als die gravierenderen Probleme wie Flüchtlings- oder Energiepolitik.  Nebensächlichkeiten werden vermeintlich bedeutungsvoll und zur täglichen Realität in den Medien: eine endlose Reihe von Vorfällen, die ihr Gewicht an der Anzahl der Retweets, nicht aber an ihrer Bedeutung haben. Imaging zahlt sich aus. Das Bild wird zur Realität.

Wir regieren unsere Länder dann auf der Grundlage von Tagesmeldungen. Eine solche “Steuerung durch Tagesmeldungen” treibt unsere Institutionen, die komplex miteinander verwoben sind, in den Wahnsinn. Im Deutschen gibt es die treffende Formulierung: “Und morgen wird eine neue Sau durchs Dorf getrieben.”  Warum sind wir noch erstaunt, wenn Institutionen zerfallen und sich Organisationen verzetteln?

Dieses Phänomen lässt sich auch von anderer Seite beleuchten: Krisen, die nicht in einem Einzeiler erfasst werden können, erhalten keine Aufmerksamkeit. Umweltkrise, Bildungskrise, Pflegekrise, Demographie, Wohnungskrise:  Breite und langsame Unterströmungen, die sich langsam und unbemerkt in zerstörerischer Eigendynamik vorwärtsbewegen.

5. Die Entdeckung der Unwissenheit und die Erosion der Wissenschaft

Yuval Harari hat in seiner „Eine Kurze Geschichte der Menschheit“ eine kontraintuitive, aber interessante Beobachtung gemacht: Mit der Entdeckung der Wissenschaft haben wir die Unwissenheit entdeckt. Es ist noch gar nicht so lange her, dass Wissenstraditionen wie der Islam, das Christentum oder der Buddhismus die Quelle allen Wissens waren. Alles, was es über die Welt zu wissen gab, war den allmächtigen Göttern und großen Weisen bekannt. Alles, was es über die Welt zu wissen gab, entnahm man den Vermittlern dieser Quellen, und das war ausreichend.

Mit der wissenschaftlichen Revolution ist der Mensch reif genug geworden, um zu verstehen, dass man nicht alles wissen kann und alle wissenschaftlichen Erkenntnisse vorläufig sind. Es ist jedoch so, wie Karl Popper es formulierte: Jede echte Wissenschaft muss falsifizierbar sein. Das bedeutet, dass die Wissenschaft niemals eine endgültige Grundlage liefern kann, sondern nur eine vorläufige, und zwar so lange, bis das Gegenteil einer These bewiesen ist.

Natürlich hat uns diese “Vorläufigkeit” immer wieder dazu inspiriert, weiter und weiter zu forschen, und das hat uns unglaublich viel gebracht. Aber bei all dem Wissen und dem Wert, den uns die Wissenschaft gegeben hat, wird immer deutlicher, was die Wissenschaft nicht erfüllen kann: Sinnfragen zu beantworten.

Die aus der Klimadebatte bekannte Aussage, the science is settled (die Wissenschaft stehe fest), mit der man die These absolut und endgültig machen will, zielt darauf ab, die Diskussion zu beenden. Das kann nur eines bedeuten: dass die Wissenschaft von der Politik benutzt wird. Und zwar auf eine Weise, die dem Wesen der Wissenschaft widerspricht. Gerade deshalb erodiert die Wissenschaft als objektivierendes, sinnstiftendes Phänomen. Das Nicht-Wissen betont unsere humanistische Autonomie und Vielfalt. Eine politisierte, medialisierte Wissenschaft wirft uns in mystische Zeiten zurück.

Gesellschaftliche Auswirkungen

Erosion der Autorität, ambivalentes Selbst, Demokratisierung von Nachrichten, Fokusierung auf instinktgeleitete Trivialisierung, Erosion der Wissenschaft: Diese Phänomene haben wir identifiziert.

Was machen sie mit uns und unserer Gesellschaft?

Regression in der Kommunikation

Eine erste Konsequenz hat mit den typischen Merkmalen der sozialen Medien zu tun:

  • Kurz: Jede Vertiefung ist unmöglich, der Kontext fehlt, daher
  • Schnell: blitzschnell posten, re-tweeten, ohne Abstand, ohne Nachdenken, und obendrein
  • Überall: diese kontextfreien Nachrichten werden millionenfach in das Universum geschleudert.

In Folge dieser Merkmale tritt die Gesellschaft in eine kommunikative Regression. Regression bedeutet,    in ein früheres Stadium des Bewusstseins zurückzufallen.

Wir sind ständig und in Echtzeit einem Bombardement an Informationen ausgesetzt. Ausmaß und Geschwindigkeit führen zu einer Überlastung. Das hat zur Folge, dass wir eher durch den instinktiven Bereich des Gehirns und nicht durch den frontalen Kortex – den Vernunftbereich unseres Gehirns – geleitet werden. Unsere Aufmerksamkeit richtet sich schneller auf Bilder als auf Text. Wir reagieren stärker auf Schlagzeilen und Soundbites als auf einen Artikel. Wir springen schneller an auf alles, was mit Sex und Gewalt, Widerwärtigkeiten und Trivialitäten zu tun hat. Es wird an die Urinstinkte appelliert: Sexualität und Sicherheit, Begierde und Angst. Es fehlt an ausgleichenden, kenntnisreichen und nuancierten Einlassungen wie die eines Jerome Heldring in Holland oder eines Helmut Schmidt in Deutschland.

Wir sprechen hier nicht von unschuldigen oder willkürlichen Merkmalen der sozialen Medien. Wir sprechen vom Kern des Geschäftsmodells und des technischen Designs, mit dem im Big Tech Geld gemacht wird. In unserer ur-instinktiven Orientierung an allgegenwärtigen Reizen sind wir so nicht mehr frei.  Je süchtiger der Nutzer, desto reicher die Plattform. Natürlich kennen wir diese psychologischen Mechanismen aus dem Marketing schon seit geraumer Zeit. Aber das Ausmaß und die Durchdringung dieser Techniken ist heute beispiellos.

Polarisierung

Viele Menschen sind besorgt über die Verrohung der Gesellschaft, über Spaltungen und Polarisierung. Als Gegenreaktion hat die Holländische Regierung eine Kampagne gestartet, die den Bürgern Tipps gibt, wie sie angemessen reagieren können: “Zählen Sie zum Beispiel bis 10!”, “Versuchen Sie, wirklich zuzuhören!”, “Lassen Sie jemanden ausreden!”

In bester moralistischer Manier zeigt die Regierung, dass sie Polarisierung als etwas gesellschaftlich Unerwünschtes betrachtet, etwas, dem es entschieden entgegenzutreten gilt. Ganz wie der Papst. Aber wie sinnvoll ist das?

Die in den frühen 1960er Jahren so sehnsüchtig erwartete Vielfalt der Meinungen hat sich zu einem Moloch entwickelt. Milliarden von Meinungen haben sich durch Geschwindigkeit, Kontextlosigkeit und den Umfang der sozialen Medien zu einer wirbelnden Masse aufgetürmt. Das Meer der individuellen Bedeutungen hat eine amorphe Bedeutungslosigkeit angenommen. Genauso wie eine wirbelnde Masse von Farben zu der Wahrnehmung von Weiß führt. Wir haben es hier nicht mit einer Post-Wahrheit zu tun, sondern eher mit einer Un-Wahrheit. Es gibt eine Masse von Informationen, aber nur eine begrenzte gemeinsame Bedeutung. Aufgrund des Ausmaßes, des Umfangs und der Intensität dieser Entwicklung ist es daher schwierig, sich dagegen zu schützen, so wie ein Regenmantel nicht vor Nässe schützt, wenn man ins Wasser fällt. Die Polarisierung erweist sich nicht als Verhaltensvariable, sondern als energetisches Prinzip. Ein Wirbel, in dem eine Zentrifugalkraft herrscht, die die Pole immer weiter auseinandertreibt, bis sie aus der Umlaufbahn fliegen.

Medien als Mainstream

Eine weitere Folge ist die Auswirkung auf die Medien. Medien, Plural von Medium, vom lateinischen Medium, “die Mitte”, “ein Träger”, oder “ein Sender”. Ein Wort das Neutralität ausstrahlt. Es ist das, was Medien auch sein wollen: neutral, objektiv, enthüllend vielleicht, aber dann auch so objektiv wie möglich.

 Um Objektivität zu gewährleisten, erwies es sich als sinnvoll, unabhängig von allen Ordnungstrukturen zu sein. Schließlich sah man sich nur als Beobachter.

In der mehr oder weniger stabilen Gesellschaftsordnung der letzten Jahrzehnte war es noch möglich, seine eigene Position zu wählen. In der chaotischen Ordnung von heute, einer Informationswelt, die zu schnell, zu kontextlos, zu massiv und zu kommerziell ist, haben auch die Medien keinen Halt mehr. Sie drehen sich in dem modernen Chaos genauso leer wie alle anderen und suchen nach einem Fluchtweg, einer Koalition. Aus diesem Grund klammern sich die Mainstream-Medien jetzt an die vorherrschenden Narrative der Regierung und der Eliten. Für sie scheinbar die einzige Möglichkeit, etwas zu bewirken. Sie sind aber nicht mehr frei, weil sie meinen, zu ertrinken, wenn sie nicht nach dem Rettungsring der herrschenden Ordnung greifen.

Die Mainstream-Medien sind in einer kontextlosen Welt zwangsläufig mit dem identifiziert, was noch ein gewisses Maß an Realität zu haben scheint, nämlich die Macht. Aber es ist natürlich unerträglich, dass eine neutrale, außer Rand und Band geratene Nachrichtenbehörde, die das Establishment kontrollieren soll, nur ein Symptom ist.

Aus phänomenologischer Perspektive lässt sich auch erkennen, dass jede Polarisierung, auch gegenüber den Medien, sinnlos ist. Es gibt weder einen Täter noch ein Opfer. Gleichwohl sind die Symptome: die Unfreiheit der Medien, der Verlust von Kontrolle und Gegenmacht, gesellschaftlich eine beunruhigende Entwicklung.

Erosion der Politik

In der Politik führt das Übermaß an Einzeilern und Clickbait zum Chaos. Es fehlt jeder Rahmen für eine stabile und nuancierte Interpretation der gesellschaftlichen Prozesse. Dies führt nun per definitionem zu Fragmentierung, Extremismus und Polarisierung, in Parlamenten wie in Regierungen. Die aus diesem Phänomen resultierende Ohnmacht führt in vielen großen westlichen Demokratien zu Stillstand und Stagnation, aber auch zu Regierungsübergriffigkeit.

Politiker und Parteien müssen immer lauter schreien und immer extremere Positionen einnehmen, um gehört zu werden. Mit jeder Wahl spalten sich die Parteien. Mit jeder Wahl werden alte, nuancierte Positionen gegen neue und extremere ausgetauscht, eine Entwicklung, die nur zum Wachstum des Chaos beiträgt. Dies wiederum steigert den Politikverdruss und verringert das Vertrauen in die politischen Akteure, was wiederum zu ständigen elektoralen Erdrutschen führt.

Diese Erosion der Politik ist aufgrund des Verfassungsprinzips des Primats der Politik nur schwer in den Griff zu bekommen. Dieses Prinzip beschreibt das parlamentarische System als höchste Instanz, dass zu bestimmen hat, was für das öffentliche Interesse wichtig ist und wie die gesellschaftliche Ordnung aussehen soll. Gerade deswegen kommt die höchste säkulare Instanz nicht auf die Idee das eigene Funktionieren reflektiert in Frage zu stellen.

So steht die materielle, gesellschaftliche Legitimität der Politik unter großem Druck. Aber diese Tatsache wird mit dem Verweis auf die formale Legitimität unter den Teppich gekehrt. Im politischen Spiel wird weiterhin bis zum Umfallen um Mehrheiten gerungen. Wenn die Politik nicht erkennt, dass sie durch das Primat der Bewusstseinsentwicklung selbst auch ihrer eigenen gesellschaftlichen Entwicklung unterworfen ist, entsteht ein blinder Fleck. Wer schützt die Gesellschaft vor den blinden Flecken des Kollektivs der Politiker? Viele Politiker ignorieren diese Phänomene und klammern sich immer verbissener an die formale Legitimität und ihre eigene Wahrheit.

Synthese

Wahrheit und Ambivalenz

Die beschriebenen Konsequenzen: Polarisierung, Kommunikationsregression, Medien als Mainstream, Erosion der Politik und das Aufkommen von Verschwörungstheorien sind einzeln schon jeweils katastrophal für eine Gesellschaft. Wie viel mehr noch als Bündel.

Wo ist jetzt die Wahrheit geblieben?

Bis vor ein paar Jahrzehnten wurde die Wahrheit von Gott bestimmt. Die göttliche Wahrheit war absolut. Gott wurde für uns, ohne unser Mitspracherecht, von der Religion oder Kultur der Gruppe, der wir angehörten, interpretiert. Unsere Religion bot uns den Schutz der Gruppe. Dieser Schutz wurde immer mehr zu einer Einschränkung. Mit dem Erwachen des Individuums haben wir uns von der Gruppe befreit.

Wir erhielten Zugang zu neuem Wissen und zugleich zur Relativierung des Wissens. Die Wissenschaft war ein Exponent dafür. Weil das Nichtwissen ziemlich berauschend war, projizierte das Individuum zusätzlich die göttliche Wahrheit auf sich selbst im Sinne Descartes: Je pense, donc je suis, Ich denke, also bin ich. So erlangte die Ego-Wahrheit einen absoluten Status.

Die Moderne brachte somit eine doppelte Ambivalenz hervor: Auf individueller Ebene die Ambivalenz zwischen dem Nicht-Wissen und dem Absoluten des Ichs. Auf kollektiver Ebene die Ambivalenz zwischen der Realität von Armut, Gewalt und Umweltverschmutzung einerseits und dem heroischen Anspruch,  alles sei konstruierbar, kontrollierbar und rettbar durch uns andererseits.

Als Folge dieser Ambivalenzen tritt die Desinformation in Erscheinung.

Desinformation und Moral. Eine Krankheit des Überflusses

Desinformation und Fake News sind eigenständige Symptome der Moderne. Wir konnten nicht ahnen, wie sehr die Fragmentierung von Strukturen und Bedeutungen in Verbindung mit der Anhänglichkeit des Egos an seine eigenen Vorstellungen alles beeinträchtigen würde, was eine Gesellschaft ausmacht: Sitten, Institutionen, Architektur, Technologie, Recht und Politik. Vielleicht wäre es sinnvoller, Desinformation in diesem Sinne als “Wohlfahrtskrankheit ” zu bezeichnen.

Wer Desinformation als unmoralisch bezeichnet, suggeriert, dass er genau diagnostizieren könnte, was Desinformation ist und was nicht. Das Establishment und die Faktenprüfer verfügen dann schließlich über die wahren Informationen also objektive Wahrheiten. Sie werden sie uns Bürgern verkünden. Und demgegenuber ist Desinformation eindeutig das Produkt von Pharisäern, Betrügern und Schwachköpfen.

Natürlich gibt es mächtige Unzufriedene und technisch begabte Hohlköpfe, die die Medien für dystopische Propaganda und bewusste Täuschung nutzen. Daher macht die Hypothese, dass Desinformation ein Symptom der Moderne ist, dieses Symptom nicht unschädlich. Im Gegenteil.

Die Moderne hat damit die Büchse der Pandora geöffnet.

Genau aus diesem Grund ist es plausibler und realistischer, damit zu rechnen, dass fast jede Nachricht subjektiv und daher potenziell eine Fake News ist. Ob es uns nun gefällt oder nicht. In Ermangelung ausreichend objektiver und gemeinsamer Referenzrahmen für die Interpretation von Nachrichten und Daten ist dies das Ergebnis. Wir werden so lange in der Schwebe leben, bis wir neue und andere Verhaltensweisen des Umgangs mit Desinformation entwickelt haben die uns helfen sinnvolle Unterschiede zu treffen.

Das Moralisieren von Desinformation macht – wie der bildliche Kanarienvogel in der Kohlenmine – deutlich: das moderne Bewusstsein ist in eine Sackgasse geraten und ohnmächtig geworden. Deshalb ruft es ein altes Bewusstsein auf. Regression. Mit diesem Rückfall in das alte Bewusstsein tauchen alte Gespenster wieder auf: absolute Wahrheit (“settled science”,”Abdankung der Wissenschaft” Alternativlosigkeit), Zensur und Ausschluss von Meinungen, Volksgerichte und Verurteilung auf Grundlage von Imaging sowie der Anstieg von kollektiver Angst und Aggression.

Hotpants und Desinformation

Früher wetterte das Establishment gegen Hotpants. Ihre Trägerinnen wurden zum Ziel heftiger Moralvorwürfe. Hotpants seien zu kurz und zu entblößend. Wer Hotpants trug, war ein „Flittchen‘ . Rückblickend können wir Hotpants als Symptom und Manifestation der Individualisierung ansehen. Sie waren ein Schritt auf dem Weg zur Emanzipation der Frau. Haben die moralingetränkten Proteste gegen Hotpants und ihre Trägerinnen die Individualisierung und Emanzipation aufgehalten?

Es gibt unzählige Beispiele für Manifestationen des Entfaltens des Individuums, die verspottet, verhöhnt und bekämpft wurden, die Emanzipation des Individuums aber nicht aufhielten.

Im Moment sehen wir nur zwei Modi, mit Desinformation umzugehen. Erstens: die technokratische Social-Engineering-Vision, bei der wir endlos an der Gesellschaft herumbasteln. Dabei laufen wir Gefahr, auf immer restriktivere, umfangreichere Eingriffe zurückzugreifen, die nur die Ohnmacht verstärken und unsere Grundrechte gefährden. Zweitens: da Technokratie in eine Sackgasse geraten ist, greifen wir auf die Moral zurück. Ein regressiver Schritt. Wir sollten inzwischen wissen, dass dies kein heilsamer Weg ist.

Desinformation ist eine Manifestation der “Post”-Moderne, natürlich ganz anderer Natur als die Hotpants vor sechzig Jahren. Desinformation ist eine Degeneration der Moderne, eine Degeneration von sechs Jahrzehnten individueller Befreiung und technologischer Entwicklung. Sind wir bereit und in der Lage, Desinformation und Fake News als Phänomene einer Welt zu betrachten, die wir selbst geschaffen haben und für die wir selbst die Verantwortung übernehmen müssen? Wenn ja, dann können wir lernen zu erkennen, was diese Phänomene über die Realität aussagen. Die Wahrheit kann gefunden werden, wenn wir bereit sind zu untersuchen, welche Botschaft diese Phänomene für uns bereithalten.

 

Erkennen (Phänomenologie)
Wir können nur das sehen und erkennen, was erscheint. Alles andere ist bloßer Gedanke, bloße Theorie und unwirklich. Das, was erscheint, ist unendlich – unendlich weit, und endlich vielfältig und unendlich tief. Je mehr und je tiefer wir uns auf das Erscheinende einlassen, es auf uns wirken lassen und es aufnehmen, umso mehr und tiefer erfahren wir die Welt – und damit zugleich uns selbst.      
Wilfried Nelles – Alles ist Bewusstsein ist alles