Manchmal führen unerwartete Querverbindungen zu bemerkenswerten Erkenntnissen.
In meiner Praxis als Berater von Führungskräften taucht der Begriff “Personal Leadership ” oder auch „Selbstführung“ fast täglich auf. Es handelt sich dabei um einen etwas oberflächlichen Modebegriff, der aber offensichtlich ein Bedürfnis nach Vereinfachung in der manchmal schier unerträglichen Hektik moderner Organisationen befriedigt. Es geht um Führung – immer gut. UND die soll persönlich sein – es ist also für jeden etwas dabei. Aber so häufig das Wort oder der Begriff auch auftauchen, so schwierig ist es, herauszufinden, was genau das eigentlich ist, das dir auf deiner persönlichen Suche nach Orientierung helfen soll. Gemeinplätze gibt es viele: “Lebe aus deinem Inneren heraus”, “Bringe das Beste in dir zum Vorschein”, “Entwickele dein volles Potenzial“. 😳
In einem ganz anderen Zusammenhang kamen mir kürzlich die Einlassungen des kürzlich verstorbenen Psychologen David Schnarch wieder in den Sinn. Schnarch war ein führender amerikanischer Sexualtherapeut, dem du vielleicht schon einmal in der Psychologie Heute oder auf der Brigitte-Seite mit den Sex-Tipps begegnet bist. Was haben Sex-Tipps mit Selbstführung zu tun, fragst du dich jetzt vielleicht.
In einem seiner Hauptwerke, „Die Psychologie sexueller Leidenschaft“ (1997), erörtert Schnarch das Konzept der “Differenzierung” als wichtiges Element für eine gelingende Beziehung. Damit meint er die Fähigkeit, zwei der stärksten menschlichen Antriebe richtig auszubalancieren: unseren Drang, unser eigenes Leben zu leben (Autonomie) und unser Bedürfnis, mit anderen in Beziehung zu treten (Verbindung).
Zu den häufigsten Beziehungsproblemen gehört, dass wir zu viel von dem einen und zu wenig von dem anderen haben. Manche fühlen sich in engen Beziehungen gefangen oder kontrolliert und haben das Gefühl, nicht sie selbst sein zu können; sie haben vielleicht das Gefühl, dass ihr Selbstwertgefühl zu schwinden beginnt und sie nicht mehr wissen, wer sie sind. Andere haben Trennungsangst oder Verlustängste oder sehnen sich nach Sicherheit und Geborgenheit und drängen ihren Partner deshalb zu Hingabe und bedingungsloser Liebe.
Klingelt da was?
Schnarch setzt die Differenzierung in praktische Konzepte um. Das sind die Prinzipien, die er anwendet, um Paaren zu helfen, geerdeter, anpassungsfähiger, kreativer und reifer zu werden, mit anderen Worten, „sich besser zu differenzieren“. Dabei beschreiben seine Ausführungen aus meiner Sicht perfekt, was gelungene Selbstführung oder eben „Personal Leadership“ ausmacht:
- Ein stabiles und flexibles Selbst
- Du hast eigene innere Werte, nach denen du lebst.
- Dein Selbstwertgefühl hält in schwierigen Zeiten stand.
- Du kannst zu deinen Ansichten und Gefühlen stehen, auch wenn andere dich unter Druck setzen, dich anzupassen.
- Du beziehst deine persönliche Stabilität, deine Werte und deine Orientierung aus dir selbst; das macht es einfacher, auch mal zuzugeben, wenn du falsch liegst.
- Wenn du im Unrecht bist, kannst du das zugeben und aushalten, ohne wütend oder verletzend zu werden.
- Du lernst aus deinen Fehlern.
- Ein ruhiger Geist und ein ruhiges Herz
Du bist in der Lage, deine innere Welt selbst zu regulieren, indem du:
- deine Ängste in den Griff bekommst, damit sie nicht mit dir davonlaufen;
- selbst beruhigend auf deine Gefühle und Emotionen einwirkst und das nicht vom Partner oder der Partnerin erwartest;
- dich selbst um deine “emotionalen” Prellungen kümmerst;
- auf deinen Körper hörst;
- Maßvolle und angemessene Reaktion
- Du reagierst maßvoll und angemessen auf Menschen, Ereignisse und Situationen.
- Du reagierst in angespannten oder ängstlichen Situationen nicht über, indem du z.B. verletzende Dinge sagst, deine Kinder anschreist, wegen Kleinigkeiten zusammenbrichst oder eine kurze Zündschnur hast.
- Und du verdrängst oder vermeidest keine unangenehmen oder konfliktreichen Situationen, die Aufmerksamkeit erfordern.
- In Auseinandersetzungen fühlst du mit deinem Gegenüber mit ohne selbst mitzu“leiden“.
- Sinnvolle Beharrlichkeit
Du kannst Unbehagen oder Schmerzen ertragen, um zu wachsen. Das ist eine entscheidende Voraussetzung für den Erfolg in Ehe, Elternschaft, Familie und Beruf. Ausdauer ist nicht blinde Beharrlichkeit, Sturheit oder die Weigerung, sich den Tatsachen zu stellen. Vielmehr impliziert es:
- Beharrlich sein, bis du deine Ziele erreicht hast;
- Das zu tun, was getan werden muss, auch wenn du keine Lust dazu hast;
- Mit Widrigkeiten und Enttäuschungen umgehen, nach Niederlagen wieder aufstehen;
- Dem Stress standhalten.
Wunderbar, oder?
Im Arbeitskontext entstehen Probleme auch oft durch mangelnde Differenzierung zwischen dem Wunsch nach persönlicher Autonomie und der Verpflichtung gegenüber deinem Job oder deinem Chef. Im öffentlichen Arbeitsleben, wo viele Menschen mit einem großen Engagement für Bürger, Patienten, Studierende oder Reisende arbeiten, steht diese Differenzierung unter starkem Druck, und ich sehe viele Arbeitsbeziehungen, die durchaus unhaltbar sind.
Nutze also die Vision von David Schnarch und entwickle deine Fähigkeit, dich zu differenzieren. Wenn du diese Kompetenz für die Arbeit entwickelst, wirkt sie sich normalerweise auch zu Hause, im Bett, aus. Und es funktioniert auch andersherum. Das ist eine Win-Win-Situation.