Führung in Zeiten von Corona: Bloß keine Schwäche zeigen (1)

Ich habe keine Zweifel an der Integrität und Intelligenz von Mark Rutte oder Angela Merkel. Ich frage mich jedoch, wo er, wo Sie und auch, wo wir gelandet sind.

Corona ist ein Spiegel – ein Spiegel, der uns zeigt, wer wir sind und wo wir sind. Wer unsere Anführer sind, und wer wir als die ihnen Folgenden sind, im Hier und Jetzt.

Es gibt bemerkenswerte Parallelen zu Pandemien der Vergangenheit, die wir nicht kennen, weil eine Pandemie dieser Größenordnung zuletzt vor sehr langer Zeit stattgefunden hat. Ich möchte zuerst darauf eingehen. Und dann können wir sehen, ob der Unterschied so groß ist, wie wir denken.

Die Corona-Krise und die Pest: Parallelen

Pandemien bringen den Staat an die Grenzen seiner Möglichkeiten. Dennoch will er keine Schwäche zeigen. Und so verstärkt er seine Kräfte. Das ist der Kern eines kürzlich erschienenen Artikels des Freiburger Geschichtsprofessors Volker Reinhardt. Er skizziert die Parallele zwischen Pest und Corona in farbenfrohen Bildern. Er behauptet, dass tatsächlich Parallelen gezogen werden können, obwohl der Vergleich aus etlichen Gründen auch fehlerhaft sei. Besonders zutreffend sei er aber, wenn es um das Verhalten von Behörden gehe.

Die “Experten” der Pestzeit um 1347 – Theologen, Astrologen und Ärzte – kamen einstimmig zu der Diagnose, dass die Pest das Ergebnis einer ungünstigen Planetenkonstellation war die giftigen Dämpfe zur Erde schickte. Die Menschen starben demzufolge an der tödlichen Inhalation. Den Bürgern wurde von den Experten geraten, an duftenden Essenzen zu schnuppern, eine strenge, fleischfreie Diät einzuhalten und vor allem: positive Gedanken zu hegen.

Trotz all dieser famosen Ratschläge waren die Könige und Päpste de facto aber hilflos in einer Epidemie, die das Leben aller akut bedrohte. Ihre Position und noch viel schlimmer, ihre Legitimität waren davon bedroht. „Herrschaft“, so Reinhardt,  „rechtfertigt sich zu allen Zeiten, wenngleich aus ganz unterschiedlichen Quellen, durch den daraus entspringenden Vorteil für die Beherrschten, auch wenn sie sich jahrhundertelang im Eigeninteresse schmaler Oligarchien entwickelt hat.“

Ohne nachweislich positive Auswirkungen auf das öffentliche Interesse, verlor der Staat demnach also sein Existenzrecht und wurde äußerst verletzlich, damit umstritten und letztendlich ersetzbar.

Dies wurde lange vor der Pest während großer Hungersnöte deutlich. Als es den Behörden nicht gelang einen Getreidemangel zu beheben, der zu Preiserhöhungen und Brotknappheit führte, betrachteten die Massen den Pakt als verletzt und aufgelöst. Sie nahmen die Sache im Namen des natürlichen Überlebensrechts selbst in die Hand. Und sie plünderten Getreidespeicher und Bäckereien.

Gestehe keine Schwäche ein

Dies führte zu einem eisernen Prinzip, an das sich alle Behörden bis heute strikt zu halten haben: Unter keinen Umständen die eigene Verzweiflung und Hilflosigkeit eingestehen! Im Gegenteil: In Krisenzeiten nahm die Produktion von Verordnungen, Dekreten, Anweisungen und Strafen enorm zu. Die Maschinerie der Legislative wurde produktiver, je mehr die Infektions- und Sterblichkeitsraten stiegen. Mit anderen Worten: Entschlossenheit um jeden Preis war und ist das Motto. Zeigen sie keine Schwäche! Zeigen sie, dass sie tatkräftig sind! Betonen sie ihre große Umsicht und präsentieren sie Zahlen, die ihren Erfolg belegen!

Man erkennt auffallende Ähnlichkeiten mit der aktuellen Corona-Krise, nicht wahr?

Niemand wird leugnen, dass bestimmte grundlegende Sicherheitsmaßnahmen wie Handhygiene, Abstandhalten und das Tragen von Masken, die im Frühjahr 2020 eingeführt wurden, sinnvoll und angemessen sind. Gleichzeitig wird immer deutlicher, dass der Staat, wie in 1347, an seine Grenzen stößt. Er kann die Regeln für den öffentlichen Raum weiter verschärfen – wie es die venezianischen Aristokraten auf dem Höhepunkt der Pest-Epidemie getan haben – und die Einhaltung immer effizienter überwachen lassen. Dabei wird deutlich, dass dieses Muster wütende Gegenreaktionen hervorruft: Was außerhalb der eigenen vier Wände verboten ist, wird im privaten Bereich umso hemmungsloser ausgelebt. Niemand kann wollen, dass ein Polizeistaat durchs Schlüsselloch späht, geschweige denn ein totalitärer Staat.

Es stellt sich also die Frage, ob der Staat, der letztendlich nur durch demokratischen Konsens existieren kann, heute nicht endlich zugeben könnte, was für vormoderne Oligarchien unvorstellbar war: dass er seine Ressourcen erschöpft hat, vielleicht sogar zu weit gegangen ist, und dass es jetzt auf die Verantwortung der Zivilgesellschaft und die Vernunft des Individuums ankommt. Vielleicht würde das ehrliche Eingeständnis der Regierungschefs und der verschiedenen Experten, dass sie ihr Bestes gegeben haben, aber sich nicht wirklich sicher sind, die Akzeptanz der wesentlichen Sicherheitsregeln fördern.

Die Pandemie ist ein Spiegel, der den Zustand des Landes in Krisenzeiten zeigt. Zum Glück ist es eine Ausnahmesituation.

Oder nicht?

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