Die Moderne und Individualisierung: Zersplitterung von Materie und Geist (3)

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Komplexität und Kontrollverlust

Regierungsorganisationen sind im Laufe der letzten Jahrzehnte sehr kompliziert geworden. Das ist auf die ständig wachsende gesellschaftliche Komplexität, die unaufhaltsame Digitalisierung, regelmäßige Haushaltskürzungen und sich ändernde politische Prioritäten zurückzuführen. Darüber hinaus können Regierungsorganisationen ihren Verantwortungsbereich nicht auf die von ihnen kontrollierten Bereiche beschränken, wie das in der Geschäftswelt möglich ist. Zum Beispiel kann die Regierung die Jugendbetreuung nicht aussetzen, wenn sie denkt, dass sie zu teuer wird.

Während sich frühere Staatsorgane in gewissem Maße von einem Planungs- und Kontrollansatz leiten ließen, haben sich viele große Regierungsorganisationen heute zu sogenannten complex adaptive systems entwickelt, für die die Chaostheorie gilt. Diese Systemtypen zeigen ein nicht lineares und daher unvorhersehbares Verhalten. Zum Teil können sie nicht mehr durch reguläre Kontrollmechanismen mit gewohnter Kausalität kontrolliert werden.

Die meisten von uns kennen das Wort Komplexität, aber nur wenige verstehen das Konzept dahinter und seine weitreichenden Konsequenzen für die Regierungsführung unseres Landes. Wie ist diese Komplexität entstanden?

Materie

Wir haben die Welt determiniert und in unzählige kleine Teile zerlegt, um sie zu verstehen. Mit diesem Verständnis und Wissen haben wir Dinge gemacht, gute Dinge, aber die Natur des Universums nicht ganz verstanden. Die Aufklärung, wie wir diese neuen Einsichten nannten, war notwendig und nützlich und brachte uns die Moderne. Aber jetzt droht diese Fragmentierung ohne systemische Perspektive zum Gegenteil zu werden. Wir haben ein modernes Chaos geschaffen, das wir nicht mehr kontrollieren können. Nicht mit den Mechanismen aus der Ära des Gruppenbewusstseins, der Götter, Könige und Premierminister, der Koalitionen und Oppositionen. Und nicht einmal mit den Methoden der Moderne, des Neoliberalismus und der Wissenschaft. In dieser Komplexität verlieren wir ungewollt die Kontrolle, nicht weil wir dumm sind, sondern weil wir unter keinen Umständen Schwäche oder Ohnmacht zeigen wollen. Dies bringt uns zu einer modernen Variante der mittelalterlichen Mystik: Symbolik, Visionen von Angst, politisch korrekte Sprache und Moralismus.

Geist

Was unseren Organisationen und unserer Gesellschaft passiert ist, ist uns selbst passiert. Wir haben die Fragmentierung von Wahrheiten und Meinungen als individuelle Freiheit bezeichnet. Natürlich war es eine Befreiung von den Ketten der Gruppe. Aber auch die Euphorie des Individuums droht sich in ihr Gegenteil zu drehen. Wenn alle Recht haben, wohin gehen wir? Wenn alle Recht haben, was ist dann die Wahrheit? Wenn alle Recht haben, gibt es noch irgendwelche Grenzen … Lügen? Wenn jeder Witz jemandem schadet, worüber können wir dann noch lachen? Unsere Hypothese war, dass wir uns befreien würden. Wir würden die Diktatur der Gruppe in die Freiheit des Einzelnen verwandeln. Die Realität ist jedoch oft trivialer: Wir bewegen uns von der Diktatur der Gruppe in die Diktatur des Einzelnen.

Wir nehmen die fragmentierte Materie als Chaos wahr. Das Chaos ist aber beherrschbar. Nicht mit unseren hierarchischen politischen Systemen des 19. Jahrhunderts und nicht mit mechanistischen, modernistischen Methoden. Es ist kontrollierbar, weil es eine Form der Ordnung ist, obwohl wir sie nicht vollständig ergründen können. Wenn aber auch der Geist in einzelne Fraktionen fragmentiert ist, entsteht ein paradigmatisches Problem: Chaos trifft Chaos.

Sozialen Medien

Gleichzeitig bauen wir Soziale Medien auf, die Ausdruck dieser Fragmentierung sind. Zunächst vielversprechende Entwicklungen. Fest der Redefreiheit, Säule der Demokratie, Windhund der Nachrichtenjagd, das war’s! Aber mit ein paar unerwarteten Nebenwirkungen.

Die Wahrheit erodiert. Die politische Rechte oder Linke sind nicht die Verpester von Fake News. Fake News sind ein Symptom der modernen Mediengesellschaft mit ihrer eigenen ungeahnten Dynamik. Diese Dynamik, die Autonomie der erodierenden Wahrheit, ist stärker als wir denken. Und ein Phänomen hat keine Moral.

Darüber hinaus triggern diese Medien unsere Instinkte mehr als unsere Reflexion und unsere Rationalität. Das ist ihr Geschäftsmodell. Infolgedessen sind wir gemeinsam auf eine frühere Entwicklungsstufe der Kommunikation zurückgefallen, sind vom Rationalen zum Vorrationalen, Instinktiven regrediert mit dem Ergebnis: Als Akt der Verzweiflung richtet sich unsere Aufmerksamkeit auf individuelle und zufällige Dramen, die mit einer universellen Gültigkeit versehen werden. Auch hier wiederholen wir eine mittelalterliche Dynamik: Jeden Tag wird auf dem Marktplatz ein anderes Medienopfer von Twitter oder Facebook gevierteilt.

Machbarkeit und Bewusstsein

Unsere Perspektive auf Komplexität wird durch die Art des Bewusstseins bestimmt, aus dem wir es betrachten, und das hat Bedeutung für unsere Beurteilung der Komplexität. Bewusstsein kann definiert werden als die Art und Weise, wie wir die Welt und uns selbst betrachten, sehen und wahrnehmen und sie daher so erleben. Und was wir wahrnehmen und erleben, betrachten wir als Realität.

Im Mittelalter kam alles Unverständliche und außer Kontrolle Geratene von Gott. Komplexität wurde also mit dem Göttlichen gleichgesetzt, und Chaos war eine von Gott gegebene Tatsache.

Unsere gegenwärtigen verfassungsmäßigen Strukturen und Prinzipien stammen aus früheren Jahrhunderten, als das Gruppenbewusstsein noch weit verbreitet war. Identität und gesellschaftliche Position wurden von der Gruppe abgeleitet, zu der man gehörte. In dieser Zeit war Komplexität immer noch ein lösbares Problem, das man den Ingenieuren überlassen konnte. Es war sicher großartig, die erste Eisenbahnlinie von Haarlem nach Amsterdam zu bauen und festlich zu eröffnen. Aber schon mit einer Sozialgesetzgebung wie der WOA (Berufsunfähigkeitsrente) kamen wir in einem Grenzgebiet an. Politisch und sozial war dieser Schritt logisch und sinnvoll. Aus Sicht der Komplexitätstheorie war er jedoch bereits ein riskanter Schritt, da unerwartete und unerwünschte Nebenwirkungen auftraten, wie z.B. der Missbrauch der Berufsunfähigkeitsrente, um unliebsame Mitarbeiter loszuwerden.

Als sich die Moderne in den 1960er Jahren ihre Bahn brach, wurde eine so enorme Menge an individueller Kreativität, Energie und Ambition freigesetzt, dass wir über mehrere Jahrzehnte hinweg große soziale Fortschritte erzielen konnten. Die Emanzipation blühte wie nie zuvor. Nicht umsonst wird diese Periode in Frankreich „les Trentes Glorieuses“ (1945-75) genannt. Doch dann geriet Korn für Korn Sand ins Getriebe. Die beste aller Welten, die westliche, war unvollkommen geworden.

Unsere Freiheit war damals noch frisch, die Ketten des vorhergehenden Gruppenbewusstseins noch spürbar. Deshalb haben wir angenommen, dass Freiheit Machbarkeit impliziert. Die Idee der Machbarkeit hatte den Ruf, ein überwiegend linkes Thema zu sein. Und tatsächlich führte das Gruppenbewusstsein durch Konservatismus und Modernität durch Progressivismus nach dem Zweiten Weltkrieg einen heftigen Kampf zwischen dem alten und dem neuen Bewusstsein.

Ab den 1980er Jahren dominiert das Bewusstsein der Moderne, der Anspruch des Individuums, des Ego, in einem viel größeren Kreis. Was nun zu einer viel allgemeineren Illusion der Machbarkeit führt. In progressiven Kreisen ist es die Machbarkeit des Staates und in konservativen Kreisen die Machbarkeit des Marktes, des Neoliberalismus. Die Fragmentierung politischer Fraktionen nimmt zu, aber die Vielfalt politischer Dogmen wird zu einer einzigen These, der Machbarkeit, herabgesetzt.

Basierend auf diesem Bewusstsein sehen wir Komplexität als Missmanagement oder als ein Problem, das wir Wissenschaftlern überlassen müssen. Chaos, lehrt der Duden, ist „Verwirrung, Unordnung“.

Aus diesem Grund wird keine Koalition bestehender Parteien in der Lage sein, das Anmaßung/Ohnmacht-Paradoxon zu durchbrechen. Der Politik fehlt die Gegenmacht im Gegensatz zur Idee der Machbarkeit. Und so passieren die Dramen, die wir oben beschreiben. Und die Folgen werden sein:

Mehr Staat, weil der Staat machtloser wird. Ohnmacht, die weiter eskaliert. Sie wird noch mehr als Anmaßung erscheinen. Wenn die Anmaßung für den Staat selbst unerträglich wird, wird er sie schließlich auf den Bürger projizieren. Wenn der das richtige Verhalten zeigt, wird alles in Ordnung sein.

Und jetzt?

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