Twitter und der Schmerzkörper

Wer kennt ihn nicht, den Guru mit dem Reiz des sympathischen, Hyundai-fahrenden Nachbarn? Mit seinem unzertrennlichen Pullunder und seinem unverwüstlichen Lächeln. Aber dieser Nachbar, Eckhart Tolle, ist heute einer der weltweit meistverkauften Autoren, Freund von Oprah Winfrey und eine Inspirationsquelle für 700.000 Follower auf Twitter und 2.000.000 auf Facebook. Kein kleiner Junge.

In seinem Buch „Jetzt! – Die Kraft der Gegenwart“ führte Tolle das Konzept des Schmerzkörpers ein. Der Schmerzkörper ist die Dimension des Ego, in der alle ungelösten Traumata lauern. Der Schmerzkörper ernährt sich von allem, was in unserem Kopf vorgeht, von unseren Urteilen und negativen Gedanken. Wir identifizieren uns mit diesen Gedanken und finden uns dumm, hässlich, scheiternd und so weiter. Weil wir dieser höllischen Schleifmaschine in unserem Kopf beständig unsere Aufmerksamkeit schenken, wird dieses negative Selbstbild permanent verstärkt. Auf diese Weise bleibt der Schmerzkörper am Leben und kann sogar wachsen.

Tausende, vielleicht Millionen Menschen quälen sich mit dieser Ego-Identifikation und suchen Zuflucht bei Tolle und vielen anderen. Burn-out, Stress, Impotenz, Aggression – man muss kein Psychologe sein, um zu erkennen, dass es in der westlichen Welt unermessliches psychisches Leiden gibt.

Seine Bücher, Vlogs und Kurse lehren Sie, sich bewusst zu machen, dass Ihre Beziehungsprobleme, Ihr Stress, Ihr Burnout, Ihr Grenzverhalten diesen Schmerzkörper als Quelle haben. Und bringt Ihnen bei, was Sie dagegen tun können. Also, wenn dieses gierige Monster wieder versucht, negative und schmerzhafte Gedanken von Ihnen zu bekommen, seien Sie vorsichtig! Beobachten Sie es liebevoll, aber füttern Sie es nicht. Das ist natürlich eine Vereinfachung, aber die zentrale Idee.

Inzwischen in den USA. Gegründet im Jahr 2006, gewinnt das soziale Medium Twitter im Jahr 2010 an Dynamik. Was für eine lustige Idee! Einfach zugänglich, kostenlos für alle, Kurznachrichten mit 140 Zeichen, später 280 Zeichen. Fest der Redefreiheit, Säule der Demokratie, Windhund der Nachrichtenjagd, das war’s!

Aber, mehr als jedes andere soziale Medium auch mit folgenden Merkmalen:

Kurz: Jede Vertiefung ist unmöglich, der Kontext fehlt,

damit;

Schnell: posten, blitzschnell re-tweeten, ohne Distanz, ohne Reflexion, ohne bis 10 zu zählen.

Zu guter Letzt;

Überall: Diese oft kontextlosen Schreie werden millionenfach ins Universum geschleudert.

Das Twitter-Format spricht durch seine bewusst gewählten technischen Prinzipien hauptsächlich unser limbisches System an, den Teil unseres Gehirns also, in dem unsere Emotionen und Instinkte reguliert werden. Das limbische System ist ein alter und wichtiger Teil unseres Gehirns, für Vernunft, Tiefe, Kohärenz und Nuancierung aber eher ungeeignet. All diese Eigenschaften, die wir in dieser Welt brauchen, um unsere komplizierten Weltprobleme zu lösen. Das Twitter-Prinzip führt zu Eskalation über Eskalation von links oder rechts, von Aggression, Wut, Empörung und Besserwisserei. Das Twitter-Prinzip ist Ego pur. Twitter ist ein bewusst gestaltetes Produkt, das geschaffen wurde, um unsere Aufmerksamkeit beständig durch unsere Instinkte zu erregen. Dass es damit an den Ungeduldigen, Gereizten und Besserwisser in uns appelliert, schade, es ist eine Goldmine für die Besitzer.

Twitter ist der ultimative Schmerzkörpergenerator. Kein Krieg und keine Naturkatastrophe können da mithalten, gemessen an seiner Verbreitung. Der durch Eckhart Tolles Methoden aufgelöste Schmerzkörper wird durch Twitter in ungleich größerem Ausmaß gefüttert.

Während das Wörterbuch lediglich behauptet, „Medium“ bedeute „alles, was der Übermittlung von Informationen dient“, ist Twitter in Wirklichkeit kein neutrales Stückchen Infrastruktur, das mit einigen Algorithmen ausgestattet ist, sondern ein Produkt, das wahrscheinlich einen sehr messbaren negativen Einfluss auf das Bruttonationalglück und auf die psychische Volksgesundheit hat.

Grund für eine ernsthafte Introspektion in den Büros des Twitter-Managements, nehme ich an. Aber nein, nicht Introspektion, sondern Projektion: Jack Dorsey, CEO dieses Schmerz-Körper-Verdopplers, kommt uns jetzt auf die moralinsaure Tour, um uns vorzuschreiben, was wir und was wir nicht posten sollen. Das ist, als würde uns die Tabakindustrie sagen, Rauchen sei kein Problem, solange wir darauf achten, dass wir es nur am Wochenende tun und tief dabei durchatmen: seeeehr unglaubwürdig.

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